Der naturwissenschaftliche Unterricht

Der naturwissenschaftliche Unterricht an der Waldorfschule führt die SchülerInnen an die physikalischen, chemischen und biologischen Erscheinungen und Gesetzmäßigkeiten der Welt heran und erschließt ihre Bedeutung für den Menschen. Er beginnt zunächst mit einer differenzierten und genauen Betrachtung der Phänomene und ermöglicht im Anschluss mithilfe von Experimenten, dem Bilden von Versuchsreihen und dem Durchdenken von Modellen die Einsicht in die Naturgesetze.

Die Themen des naturwissenschaftlichen Unterrichts gliedern sich in erster Linie nach altersspezifischen und menschenkundlichen Gesichtspunkten, werden aber mit zunehmendem Alter der Schüler auch in fachsystematische und wissenschaftshistorische Zusammenhänge eingebettet. Die folgende Übersicht bezieht sich im Wesentlichen auf die Oberstufe der Freien Waldorfschule Essen bis zur 12. Klasse.

Physik

Im Physikunterricht kultivieren wir einen lebendigen, genau beobachtenden und klar denkenden Umgang mit physischen Phänomen. Fast jede Physikstunde geht daher mit einem Versuch zu Ende. Im gemeinschaftlichen Erschließen, Beschreiben und Verstehen der jeweiligen Phänomene arbeiten wir an Goethes „Ideal einer Forschergemeinschaft“.  

Der Physikunterricht beginnt in der 6. Klasse. Die in der Mittelstufe (6. – 8. Klasse) erstmals behandelten Themen werden in der Oberstufe wieder aufgegriffen und vertieft.  

Hier ein Überblick über den Physikunterricht der Oberstufe:

Wärmelehre / Elektrizitätslehre

Das Untersuchen physikalischer Phänomene wird noch stark vom subjektiven Erleben der Schüler geprägt. Physikalische Größen werden daher immer mit Bezug auf konkrete und nachvollziehbare Situationen eingeführt. Auf der Grundlage verschiedener Phänomene werden für Temperatur, Volumen und Druck gesetzmäßige Beziehungen der Art „je mehr ... desto mehr bzw. weniger ...“ aufgestellt. Der Umgang mit physikalischen Formeln wird im Ansatz behandelt.

 

Damit sich die Schüler in einer altersgemäßen Lebendigkeit mit den jeweiligen physikalischen Vorgängen verbinden können, werden deren Bewegungen und Kreisläufe besonders herausgestellt. Hier spielen zum Beispiel die Übergänge zwischen Aggregatzuständen oder Energieformen sowie die Periodizität bei Wärmekraftmaschinen und dem elektrischem Stromkreis eine Rolle.

 

Ein weiterer Aspekt sind technische und sozioökonomische Entwicklungen und ihre Beziehung zu physikalischer Erkenntnis. Wie kam es zur Erfindung der Dampfmaschine? Welchen Fortschritt bedeutet sie gegenüber älteren Maschinen? Wie veränderte sie das Leben der Menschen? Wichtiger als die Grundfrage der Physik „Warum ist die Natur so beschaffen?“ ist hier noch die Frage „Wie funktioniert es?“

Klassische Mechanik

Hier erhält die Physik deutlich stärker den Charakter einer axiomatischen Disziplin. Die physikalischen Begriffe und Größen der Mechanik gehen nicht direkt aus der Anschauung, sondern aus Idealisierung, Reduktion und Abstraktion beobachtbarer räumlichzeitlicher Vorgänge hervor und sind daher weniger einfach aus dem Erleben abzuleiten. 

 

Die Mathematik übernimmt an dieser Stelle die Führung und die SchülerInnen erfahren, dass die naiv erlebte Natur mit ihrer großen Bandbreite an Vorgängen in leblose Formeln gezwungen wird. Gleichzeitig wird jedoch das Erlebnis verstärkt, die Regeln, nach denen die physische Außenwelt funktioniert, im eigenen Denken hervorzubringen und überschauen zu können. Durch ihre Berechnung wird die exakte Voraussage physikalischer Vorgänge möglich. Der qualitative Verlust wird durch einen methodischen Gewinn ausgeglichen: Gerade an der Mechanik kann deutlich werden, wie sich Problemlösungen im Hin- und Herpendeln zwischen Denken und Beobachtung ergeben.

Elektrostatik / Elektrodynamik

Wo die Phänomene der klassischen Mechanik noch räumlich-zeitlich verankert oder vorgestellt werden konnten, lassen sich die der Elektrizitätslehre nicht in gewohnter Art und Weise vermitteln. Wir betreten hier das Gebiet untersinnlicher Wirksamkeiten und Vorgänge, die sich am einfachsten mit Polarität und Ausgleich beschreiben lassen. Positive und negative Ladung, ihr Erscheinen durch Trennung und ihre ausgleichende Verbindung sind physikalische Begriffe, die junge Menschen auf ihre eigene Situation des Erwachsenwerdens hinweisen. Sympathie und Antipathie und die Frage nach der Existenz einer kleinsten, aber unzerstörbaren Ladungseinheit berühren Prozesse des sozialen Miteinanders und der Selbstfindung. 

 

Nach der Elektrostatik behandeln wir den stationären Stromkreis. Hier werden Spannung, Strom, Widerstand, Arbeit und Leistung gemessen bzw. berechnet. Der Themenabschnitt „Energie und ihre Umwandlung“ dreht sich um aktuelle Fragen der Energieversorgung und führt den SchülerInnen vor Augen, wie stark der moderne Mensch auf die Elektrizität angewiesen ist. Ein- und Ausschaltprozesse an Stromkreisen führen zur Verknüpfung von Elektrizität und Magnetismus – der Elektrodynamik. Der Gedanke des Ein- und Ausschaltens von Stromkreisen und die verschiedenartige Speicherung elektrischer Energie führen schließlich zu einem für die heutige Kommunikationstechnik essenziellen Verständnis der elektromagnetischen Schwingungen und Wellen.

Optik und Farbenlehre

Die abschließende 12. Klasse hat die Aufgabe, die vorhergehenden Themen zusammenzufassen und einen Ausblick auf die moderne Physik und ihre weiteren Entwicklungsmöglichkeiten zu geben. Die Optik bietet sich hierfür aus verschiedenen Gründen an. Der Physikunterricht begann in der 6. Klasse unter anderem mit der Betrachtung optischer Phänomene, die jetzt mit einem gereiften Urteilsvermögen tiefer durchdrungen werden können. Es besteht außerdem die Möglichkeit, verschiedene Betrachtungsweisen und Modellvorstellungen der Physik anhand von Licht und Farbe zu erproben. 

 

Anknüpfend an die erlebnismäßige Verbundenheit mit den Phänomenen wird der Goetheanismus als eigenständige wissenschaftliche Methode eingeführt. Waren goetheanistische Gesichtspunkte bisher wegweisend für den Aufbau des Unterrichts, wird er in der 12. Klasse anhand der goetheschen Farbenlehre explizit behandelt. Dabei werden die SchülerInnen mit der großen Spannung zwischen den diametral verschiedenen Motivationen, Vorgehensweisen und Ergebnissen Newtons und Goethes konfrontiert. Zentrales Anliegen des Unterrichts ist es, den SchülerInnen zu vermitteln, dass beide Ansätze ihre Berechtigung haben, dass aber die Wahl der methodischen Haltung das Ergebnis maßgeblich bestimmt. Die Gedankengänge newtonscher Prägung werden bis zu den modernen atomistischen Vorstellungen von Licht und Materie verfolgt; die goethesche Denkart als Möglichkeit einer Neubelebung der Naturwissenschaft und einer Verbindung dieser mit den heute davon getrennten Bereichen des geisteswissenschaftlichen und weiteren kulturellen Lebens wird erörtert.


Biologie

Der Biologieunterricht beginnt bereits in der Unter- und Mittelstufe mit der Pflanzen- und Tierkunde. Am Ende der Mittelstufe liegt der Schwerpunkt auf der Menschenkunde, die auch in der 9. und 10. Klasse im Mittelpunkt steht. Erst in der 11. Klasse liegt der Fokus auf unsichtbaren mikroskopischen Phänomenen. In der 12. Klasse ist das Ziel, wie in der Physik die Vielfalt biologischer Phänomene von einem eher übergeordneten Standpunkt aus zu betrachten. Folgende Themen werden im Laufe der Oberstufe im Biologieunterricht behandelt:

Menschenkunde, Sinnesorgane

Während in der 8. Klasse die Körpermechanik, d.h. der Skelettaufbau und die Arbeit der Muskeln im Vordergrund steht, orientiert sich der Unterricht der 9. Klasse an der Wahrnehmung der Außenwelt mit Hilfe der Sinnesorgane. Das Sehen und das Auge sowie das Hören und das Ohr bilden einen Schwerpunkt, wir behandeln im Ansatz aber auch weitere Sinne. Der Zusammenhang zwischen der Anatomie eines Organs und seiner Funktion soll sichtbar, aber auch die individuellen Anteile am Seh- oder Hörvorgang deutlich werden. Die Sexualkunde wird in dieser Klasse ebenfalls erneut thematisiert und vertieft.

Menschenkunde, die inneren Organe

In der 10. Klasse blicken wir auf die Bildung und Funktion der inneren Organe des Menschen – ausgehend von der funktionalen Dreigliedrigkeit des menschlichen Körpers. Wir behandeln die drei Systeme (Nerven-Sinnes-System mit dem zentralen und peripheren Nervensystem, Rhythmisches System mit Herz und Lunge sowie Stoffwechsel-Gliedmaßen-System mit den Verdauungsorganen) und stellen diese nebeneinander, sodass sowohl die spezifischen Unterschiede als auch die Vernetzung der beteiligten Organe erkennbar werden. Soweit möglich, führen wir auch Experimente zu bestimmten Themen durch.

Zellbiologie

Wie in der Physik verlassen wir auch in der Biologie in dieser Klassenstufe den Bereich der unmittelbar sinnlich wahrnehmbaren Phänomene. Wir konzentrieren uns auf mikroskopisch kleine Strukturen, die Zellen, und die in ihnen stattfindenden Vorgänge. Entsprechend wird das Mikroskop als Hilfsmittel thematisiert und eingesetzt. Die bei den Schülerinnen und Schülern zunehmend vorhandene Fähigkeit zur Abstraktion nutzen wir, um die teilweise sehr komplexen Vorgänge z. B. bei der Zell- und Kernteilung gedanklich und begrifflich zu durchdringen. Der Aufbau von Zellen und ihre Unterschiede sowie die Rolle der Zellbiologie in der Medizin werden ebenso thematisiert wie daran anknüpfende ethische Fragen, die sich z. B. bei der Verwendung von Stammzellen oder beim Klonen stellen.

Themen der Botanik und Zoologie

Auch wenn der Lehrplan in der 12. Klasse einen Überblick über alle Themen der Biologie vorsieht, ist diese Vorgabe nicht in aller Vollständigkeit realisierbar. Ziel ist es daher, eine Auswahl zu treffen, die das Potenzial für einen überblickartigen Abschluss und Ausblick hat. Das Thema Evolution ist hier besonders gut geeignet, da es sowohl historische Aspekte als auch aktuellste Fragen der Biologie einschließt und botanische wie zoologische Beispiele bietet. Die von Goethe beschriebene Pflanzenmetamorphose bildet eine gute Basis für botanische Betrachtungen bis hin zu mikroskopischen Untersuchungen.


Chemie

Der Chemieunterricht beginnt in der 7. Klasse. Der Schwerpunkt liegt hier auf Verbrennungsprozessen und den damit verbundenen Verwandlungen von Stoffen. In der 8. Klasse werden die für die menschliche Ernährung unentbehrlichen Eiweiße, Kohlenhydrate und Fette behandelt und damit bereits die organische Chemie vor allem im Kontext alltäglicher Phänomene erfahrbar und erfassbar gemacht. Beide Themenkomplexe werden in der Oberstufe ab der 9. Klasse unter neuen Gesichtspunkten wieder aufgegriffen und vertieft. Wie in der Physik sollte jede Chemiestunde durch den Lehrer oder die SchülerInnen durchgeführte Experimente enthalten, mit deren Hilfe die jeweiligen Phänomene beobachtet und anschließend gedanklich verstanden werden können.

 

2011 wurde der Chemieraum der Essener Waldorfschule mit 36 Experimentierplätzen für die Schülerinnen und Schüler neu ausgestattet. Dadurch ist der Unterricht sehr schülerorientiert und bietet die Möglichkeit, Schülerexperimente in Klassenstärke durchzuführen. Auf diese Weise erhalten die SchülerInnen einen praxisorientierten Zugang zur Chemie und lernen das Planen, Durchführen und Auswerten von Versuchen.  

Stoffkreisläufe

Die 9. Klasse soll mithilfe von einfach zu beobachtenden Versuchen in die Stoffumwandlungen einführen. Ausgehend von den Verbrennungsprozessen einer Kerze führt der Weg über die Photosynthese zur Zuckerbildung, dann zur alkoholischen Gärung, zur Bildung von organischen Säuren und schließlich zur Esterbildung, mit der sich der Kreislauf schließt. Die chemische Formelschreibweise wird in ersten Ansätzen eingeführt, ohne dass bereits entsprechende Modellvorstellungen behandelt werden.

Salze, Säuren und Basen

Durch die klaren Gesetzmäßigkeiten, mit denen diese drei Stoffgruppen untereinander verbunden sind, wird den Schülerinnen und Schülern der 10. Klasse eine Systematik und Ordnung angeboten, die in diesem Alter hilfreich ist. Die Polarität der Säuren und Basen wird anhand von Alltagsphänomenen, aber auch experimentell behandelt und die Harmonisierung dieser beiden Stoffgruppen in den Salzen thematisiert. Das Erstellen von chemischen Reaktionen und ihr stöchiometrischer Ausgleich werden eingeführt und geübt. 

Chemische Elemente und Atommodelle

Auch in der Chemie greifen wir in dieser Klassenstufe 11 auf die höhere Abstraktionsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler zurück, wenn nach der Einführung des modernen Elementbegriffes (in Abgrenzung zum antiken und mittelalterlichen Elementbegriff) historische und aktuelle Vorstellungen zum Atombau thematisiert werden. Gesetzmäßigkeiten der Chemie werden ebenso behandelt wie die des Periodensystems. Verschiedene Elemente werden experimentell vorgestellt und in ihren charakteristischen Eigenschaften erfasst.

Organische Chemie

Die organische Chemie ist in ihrer einerseits klar strukturierten Systematik und gleichzeitigen enormen Fülle von Verbindungen und Erscheinungen ideal geeignet, um den Chemieunterricht in der Oberstufe (Klasse 12) abzurunden. Die polar sich verhaltenden Elemente Wasserstoff und Kohlenstoff führen zu den Kohlenwasserstoffen, die die Basis aller weiteren organischen Moleküle wie Alkohole, Carbonsäuren, Fette, Kohlenhydrate u. a. bilden. Ziel ist es auch, den Schülerinnen und Schülern den Zusammenhang zwischen dem beobachtbaren Phänomen und der abstrakten formelhaften Vorstellung von der Struktur eines Moleküls zu vermitteln.